Yoga ist für viele ein Symbol der inneren Ruhe, des ausgeglichen Seins und der persönlichen Weiterentwicklung. Doch hinter dieser scheinbar unpolitischen Praxis von Atemübungen und Asanas verbirgt sich eine Geschichte, die häufig in gesellschaftliche und politische Fragen hineinragt. Ist Yoga also politisch? Die Antwort ist vielschichtig, denn wie so oft hängt sie davon ab, aus welcher Perspektive man sich ihr nähert.
Die Wurzeln des Yoga und seine Verwestlichung
Yoga hat seine Wurzeln im alten Indien und ist tief in den religiösen und philosophischen Traditionen des Hinduismus, Buddhismus und Jainismus verankert. In der Kolonialzeit wurde Yoga von den westlichen Mächten vereinnahmt und verändert. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts begann die westliche Welt sich mit Yoga auseinanderzusetzen. Kann diese Verwestlichung als kulturelle Aneignung bezeichnet werden oder ist die Verbreitung des Yoga im Westen ein kultureller Austausch?
Sri T. Krishnamacharya hat am Palast des Königs von Mysore unterrichtet und wird heute als Begründer des modernen Yoga gesehen. Er hat den Yoga in einer dynamischen Form weiterentwickelt und das erste Mal den Atem mit der Bewegung zusammengebracht. Anleihen für die Vielzahl an Übungen, die er Anfang der 1930 Jahre entwickelte, fand er bei den Gymnasten, den Wrestlern und Ringern, die ebenfalls am Palast des sportbegeisterten Königs unterrichteten. Mehr dazu liest du im Buch „The Yoga Tradition of the Mysore Palace“ von Norman Sjoman.
Diese Entwicklung spricht dafür, dass der moderne Yoga, wie er heute geübt wird, zu dieser Zeit von der europäischen Kultur (Gymnasten, Ringer, Wrestler) beeinflusst wurde. Ebenso haben Missionare, Seefahrer, Söldner und Kaufleute auf ihren Reisen zwischen Asien und unserem Abendland nicht nur Waren, sondern auch Wissen transportiert. Demnach hat Yoga sich schon immer im Laufe der Geschichte verändert und wurde von unterschiedlichen Kulturen und Religionen geprägt. Die westliche Adaption des Yoga könnte als eine Fortsetzung dieser Entwicklung verstanden werden, bei der Yoga neue Formen annimmt, ohne seine Essenz zu verlieren.
Die Vereinnahmung des Yoga durch Nationalsozialisten
Wenig bekannt ist allerdings, dass die Nationalsozialisten Elemente der Yogalehre für ihre Zwecke vereinnahmten. Heinrich Himmler, der Reichsführer der SS, war von der Bhagavad Gita, oft als die „hinduistische Bibel“ bezeichnet, fasziniert und soll stets eine Kopie des Textes bei sich getragen haben. Allerdings deutete er die philosophischen Inhalte auf eine Weise um, die seine kriegerische und menschenverachtende Ideologie stützte.
Himmler betrachtete die Bhagavad Gita als ein Werk, das seiner Ansicht nach den Krieg glorifiziere und Kämpfer dazu auffordere, ihre Pflicht zu erfüllen – ohne Rücksicht auf moralische Bedenken. Besonders die Passage, in der Krishna den Prinzen Arjuna ermutigt, familiäre Bindungen hinter sich zu lassen und in den Krieg zu ziehen, nahm Himmler als Legitimation für die Gewalt und die Verbrechen des NS-Regimes. Wie Mathias Tietke in seinem Buch „Yoga im Nationalsozialismus“ beschreibt, deutete Himmler den Text so, dass er die Pflicht zum Töten mit innerer Ruhe und Gelassenheit als moralisch gerechtfertigt ansah. Dabei ignorierte und verfälschte er die zentralen Werte der Bhagavad Gita, wie bspw. die Gewaltlosigkeit (Ahimsa), Selbstlosigkeit und die Überwindung des Egos, vollständig.
Diese selektive und ideologisch geprägte Interpretation verdeutlicht, wie spirituelle und religiöse Texte missbraucht werden können, um totalitäre Systeme zu legitimieren. Der Fall Himmler dient als eindringliche Mahnung, spirituelle Lehren stets in ihrem kulturellen und ethischen Kontext zu betrachten. Nur so kann verhindert werden, dass solche Texte für politische oder ideologische Zwecke entfremdet werden. Die eigentliche Botschaft von Yoga und der Bhagavad Gita steht in direktem Gegensatz zu den menschenverachtenden Ideologien, die Himmler und das NS-Regime verfolgten.
„Ahimsa“ und die ethische Verantwortung im Yoga
Heute wird Yoga häufig als unpolitisch oder sogar als eine Art Flucht aus dem hektischen Alltag in die Welt der Selbstfürsorge wahrgenommen. Doch ein zentraler Grundsatz des Yoga, „Ahimsa“ (Gewaltlosigkeit), macht deutlich, dass diese Praxis untrennbar mit sozialen und ethischen Fragen verbunden ist. Ahimsa fordert eine gewaltfreie Haltung, die nicht nur im Umgang mit sich selbst, sondern auch gegenüber anderen Menschen, Lebewesen, der Umwelt und der Gesellschaft gelebt werden soll. Wahrhaftigkeit (Satya) und Genügsamkeit (Aparigraha) sind Werte, die sich nicht nur auf die Yogamatte beschränken lassen, sondern auch in den Alltag und gesellschaftliche Entscheidungen integriert werden dürfen.
Wenn Yoga konsequent praktiziert wird, bedeutet dies, dass es nicht möglich ist, die Augen vor den Ungerechtigkeiten in der Welt zu verschließen. Viele moderne Yoga-Praktizierende und -Lehrende engagieren sich daher aktiv für soziale Gerechtigkeit, indem sie gegen Rassismus, für Umweltschutz und für Gleichberechtigung eintreten.
Die Kommerzialisierung des Yoga – ein Widerspruch?
In westlichen Ländern hat sich Yoga längst zu einer milliardenschweren Industrie entwickelt – geprägt von teuren Kursen, exklusiven Designermatten und luxuriösen Retreats. Dies wirft die Frage auf: Kann eine Praxis, die ursprünglich darauf abzielte, Ego und materielle Bindungen zu überwinden, in einem kapitalistischen System wirklich neutral bleiben? Nimmt die Yogawelt diese Verantwortung als Gemeinschaft wahr oder wird Yoga im Westen auf ein bloßes Wellnessprodukt reduziert?
Auch auf persönlicher Ebene birgt Yoga politisches Potenzial. In einer von Leistung und Konsum geprägten Gesellschaft kann die bewusste Entscheidung, sich Zeit für sich selbst zu nehmen, bereits ein Akt des Widerstands sein. Yoga lädt dazu ein, sich vom ständigen Druck der Außenwelt zu lösen, Konsum und Ablenkungen hinter sich zu lassen und den Blick nach innen zu richten. Diese innere Hinwendung steht in Kontrast zu den Anforderungen eines kapitalistischen Systems und kann als stiller Protest gegen dessen Werte gesehen werden.
Yoga als stiller Protest gegen Leistungsdruck und Konsum
Yoga ist eng mit sozialen und politischen Fragen verwoben, auch wenn es oft als rein persönliche Praxis dargestellt wird. Die Art, wie Yoga gelehrt, praktiziert und vermarktet wird, spiegelt zentrale Aspekte unserer Gesellschaft wider. Wenn wir Yoga jedoch als Werkzeug für Veränderung begreifen – sowohl für unser Inneres als auch für die Welt um uns herum – wird deutlich, dass Yoga nicht nur politisch ist, sondern es auch sein muss.
Yoga fordert uns nicht nur dazu auf, nach innen zu schauen, sondern auch die Augen für äußere Ungerechtigkeiten zu öffnen. Es ruft dazu auf, Verantwortung zu übernehmen und aktiv an der Gestaltung einer gerechteren Welt mitzuwirken. In einer Welt voller sozialer, ökologischer und politischer Herausforderungen könnte genau das die tiefste Form von Yoga sein: nicht nur sich selbst, sondern auch die Gesellschaft zu transformieren.
Ob Yoga als spirituelle Praxis, Lifestyle oder Werkzeug für soziale Transformation interpretiert wird, hängt letztlich von der Intention der Praktizierenden ab. Fest steht jedoch, dass Yoga Raum für Reflexion bietet – sowohl über das eigene Leben als auch über die Welt, die uns umgibt. In dieser Reflexion liegt die transformative Kraft des Yoga: eine Einladung, sich selbst und die Gesellschaft gleichermaßen zu hinterfragen und zu verändern.
Bildquelle: Lucy Greeves (2023): Krieger, Hund & Sonnengruß, München: Knesebeck