Wie man Verbindung im Alltag schafft
Worte, die nicht verletzend sind, die wahr, angenehm und förderlich sind, und die das Studium der Wahrheit pflegen – dies wird als die Askese der Rede bezeichnet.
Bhagavad Gita 17.15
Am 3. Oktober erinnern wir uns an ein historisches Ereignis, das weit über politische Bedeutung hinausgeht. Der Tag der Deutschen Einheit steht für das Ende einer Trennung, für das Fallen einer Mauer, für den Mut, aufeinander zuzugehen. Er erinnert uns daran, dass Einheit möglich ist, selbst wenn die Umstände lange Zeit unüberwindbar schienen.
Doch Einheit ist nicht nur ein staatliches oder geschichtliches Thema. Sie ist ein Prinzip, das wir täglich leben können. Denn Trennung beginnt oft im Kleinen – in einem Wort, das verletzt, in einer Geste, die abweist, in einem Gespräch, in dem wir einander nicht zuhören. Und Einheit beginnt ebenso im Kleinen: im aufrichtigen Zuhören, im ehrlichen Austausch, in dem Moment, in dem wir unsere Worte so wählen, dass sie nicht spalten, sondern verbinden. In dem Bewusstsein erkennen zu wollen, was wir gemeinsam haben, was uns verbindet.
Yoga als Weg der Verbindung
Das Wort „Yoga“ bedeutet auch verbinden. Was wir auf der Matte üben – den Atem mit der Bewegung, Körper mit Geist, Anstrengung mit Entspannung zu verbinden – das können wir auch im Alltag leben. Yoga endet nicht am Rand unserer Matte. Es geht weiter in unseren Beziehungen, in unseren Gesprächen, in unserer Sprache.
Ahimsa, die Gewaltfreiheit, ist das erste der Yamas, jener Grundlagen, die im Yoga als ethische Orientierung dienen. Gewaltfreiheit bedeutet nicht nur, niemandem körperlich zu schaden. Es bedeutet auch, unsere Gedanken und unsere Sprache zu reinigen. Wie spreche ich über andere? Wie spreche ich mit ihnen? Wie spreche ich über mich selbst? Jedes Wort ist eine Entscheidung – für Trennung oder für Verbindung.
Wenn wir Yoga ernst nehmen, dann üben wir nicht nur Asanas. Wir üben, in jeder Begegnung zu verbinden: Worte können Brücken sein und manchmal entscheiden ein paar Silben darüber, ob Nähe entsteht oder Abstand.
Gewaltfreie Kommunikation – ein Übungsweg
Der Psychologe Marshall Rosenberg hat mit der Gewaltfreien Kommunikation eine Sprache entwickelt, die genau hier ansetzt. Sie ist kein starres Regelwerk, sondern eine Haltung: Die Bereitschaft, mein Gegenüber wirklich zu hören. Die Bereitschaft, über mich selbst zu sprechen, statt andere zu beschuldigen. Die Bereitschaft, Fragen zu stellen, statt Urteile zu fällen.
Diese Haltung ist nichts anderes als gelebtes Ahimsa. Und sie gleicht einer Yoga-Praxis. Manchmal gelingt es leicht, wir spüren Verbindung. Manchmal stolpern wir, verlieren den Atem, rutschen in alte Muster. Dann kehren wir zurück, richten uns neu aus, versuchen es wieder. Genau wie im Asana: Wir fallen heraus, wir kommen zurück, wir bleiben dran.
Sprache ist eine Praxis. Sie ist nicht immer makellos, aber sie ist formbar. Jedes Gespräch ist auch eine Gelegenheit, Potenzialentfaltung im Miteinander zu üben.
Einheit im Alltag
Der Tag der Deutschen Einheit ruft uns in Erinnerung, dass große Mauern fallen können. Aber die Mauern, die uns im Alltag begegnen, sind oft unsichtbar. Sie bestehen aus Missverständnissen, verletzenden Bemerkungen, mangelndem Zuhören. Und sie können genauso trennend wirken wie Beton. Wenn wir uns dafür entscheiden, bewusst zu sprechen und zuzuhören, dann üben wir, diese Mauern einzureißen. Verbindung geschieht nicht durch große Reden, sondern durch kleine Gesten: durch einen respektvollen Ton, durch echtes Interesse, durch die Bereitschaft, innezuhalten und wahrzunehmen, was gerade wirklich da ist.
Einheit beginnt dort, wo wir Worte nicht als Waffen benutzen, sondern als Werkzeuge der Verständigung.
Sprache als schöpferische Kraft
Die Bhagavad Gita spricht von der „Askese der Rede“: Worte, die nicht verletzen, sondern wahr, angenehm und förderlich sind. Es ist eine Erinnerung daran, dass Sprache eine schöpferische Kraft ist. Mit Worten können wir verletzen, aber wir können auch heilen. Wir können Distanz schaffen – oder Nähe. Sprache ist Atem in Form gebracht. So wie wir im Yoga spüren, dass der Atem uns trägt, so kann auch Sprache tragen. Wenn wir Worte wählen, die verbinden, entsteht ein Raum, in dem neue Möglichkeiten sichtbar werden. Genau darum geht es am Tag der Deutschen Einheit: nicht um Uniformität, sondern um ein Miteinander, das Vielfalt trägt.
Der Tag als Einladung
Der 3. Oktober ist mehr als ein Feiertag im Kalender. Er ist eine Einladung. Eine Einladung, nicht nur zurückzublicken auf das, was gelungen ist, sondern auch nach vorne zu schauen: Wo können wir heute Einheit leben? Nicht im Großen, sondern im Alltäglichen.
Vielleicht im Gespräch mit der Kollegin, die anders denkt.
Vielleicht in der Auseinandersetzung mit dem Nachbarn, der (manchmal) nervt.
Vielleicht im Austausch mit Menschen, die aus einer anderen Kultur stammen.
Oder im stillen Dialog mit uns selbst, wenn wir merken, dass unsere innere Stimme härter ist, als uns guttut.
Yoga erinnert uns daran, dass wir verbunden sind. Gewaltfreie Kommunikation zeigt uns, wie wir diese Verbundenheit ausdrücken können. Ahimsa fordert uns heraus, jedes Wort bewusst zu wählen.
Einheit ist ein Prozess
Einheit bedeutet nicht, dass wir alle gleich denken oder fühlen. Einheit bedeutet, dass wir Unterschiede aushalten können, ohne dass sie uns trennen. Sie bedeutet, dass wir Brücken bauen, wo Meinungen auseinandergehen. Sie bedeutet, dass wir uns daran erinnern: Am Ende suchen wir alle dasselbe – ein Leben in Würde, Frieden und Glück.
Am 3. Oktober feiern wir, dass ein Land wieder zusammengefunden hat. Aber vielleicht ist es genauso wichtig, dass wir uns selbst fragen: Wo kann ich heute, hier und jetzt, Verbindung schaffen? Mit meinen Worten. Mit meinem Zuhören. Mit meiner Präsenz.
Yoga lehrt uns, dass Einheit nicht etwas ist, das irgendwann erreicht wird. Sie ist ein fortwährender Prozess, ein ständiges Üben, ein sich immer wieder neu Verbinden – mit uns selbst, mit anderen, mit dem Leben – all is One.
Der Tag der Deutschen Einheit erinnert uns an eine historische Mauer, die gefallen ist. Doch die Mauern in unserem Alltag sind nicht minder bedeutsam. Sie fallen auch dann, wenn wir lernen, mit Sprache so umzugehen, dass sie Verbindung schafft. Am Ende geht es nicht um Perfektion, nicht darum, nie zu scheitern. Es geht darum, immer wieder neu den Versuch zu wagen, Verbindung zu schaffen und den Geist der Einheit in unser tägliches Leben tragen, nicht nur am 3. Oktober, sondern Tag für Tag. Wo erlebst du in deinem Alltag Mauern – und wo gelingt es dir, durch Sprache und Präsenz Verbindung zu schaffen?