Dieses Mal möchte mit einem Gespräch zwischen dem Löwen Graograman und Bastian beginnen. Bestimmt kennst du die beiden auch. Sie stammen aus „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende.
„Was mag das bedeuten?“, fragte er. „TU WAS DU WILLST, das bedeutet doch, dass ich alles tun darf, wozu ich Lust habe, meinst du nicht?“
Graógramans Gesicht sah plötzlich erschreckend ernst aus, und seine Augen begannen zu glühen. „Nein“, sagte er mit jener tiefen, grollenden Stimme, „es heißt, dass du deinen wahren Willen zu tun. Und nichts ist schwerer.“
„Meinen wahren Willen?“, wiederholte Bastian beeindruckt. „Was ist denn das?“
„Es ist dein eigenes tiefstes Geheimnis, das du nicht kennst.“
„Wie kann ich es denn herausfinden?“
„Indem du den Weg der Wünsche gehst, von einem zum anderen und bis zum letzten. Der wird dich zu deinem wahren Willen führen.“
„Das kommt mir eigentlich nicht so schwer vor“, meinte Bastian.
„Es ist von allen Wegen der gefährlichste“, sagte der Löwe.
„Warum?“, fragte Bastian. „Ich habe keine Angst.“
„Darum geht es nicht“, grollte Graógraman, „er erfordert höchste Wahrhaftigkeit und Aufmerksamkeit, denn auf keinem anderen Weg ist es so leicht, sich endgültig zu verirren.“
So viel Yoga steckt in „Die unendliche Geschichte“
Als ich „Die unendliche Geschichte“ (bei Thalia kaufen) vor vielen Jahren als Jugendlicher das erste Mal gelesen habe, habe ich ehrlich gesagt nicht alles verstanden. Ich mochte die bunte Fantasie-Welt, in der alles möglich war und in der es tausende von Wege gibt. Ich mochte es, wie der anfangs schüchterne und ängstliche Bastian über sich selbst hinauswächst und zum Helden der Geschichte wurde.
Dass es Michael Ende mit seinem modernen Märchen darum geht, die Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg aufzufordern „die eigensten, innersten schöpferischen Kräfte wieder (zu) erwecken und ein neues Phantàsien, das heißt eine neue Wertewelt, auf(zu)bauen“, habe ich damals nicht erfasst.
Auch in der Philosophie, die dem Yoga und dem Ayurveda zugrunde liegt, geht es darum, wahrhaftig und achtsam zu handeln und zu denken. Das betrifft sowohl die Interaktion mit anderen und der Umwelt als auch den Umgang mit sich selbst. In die Selbstreflexion zu gehen, ist meistens nicht einfach und kann sogar schmerzhaft und sehr anstrengend sein. Es kann dazu führen, dass sich dein Leben radikal verändert – so wie sich ja auch das Leben von Bastian in „Die unendliche Geschichte“ völlig gewandelt hat. Und natürlich kannst du auch immer wieder von diesem Weg zu deinem wahren Willen abkommen und dich verirren. Aber es lohnt sich, diese Arbeit zu leisten, denn dadurch wirst du nicht nur zum Helden deines Lebens, sondern kannst auch deine Umwelt positiv beeinflussen.
Wofür lebst du?
An einem kleinen Beispiel ist das leicht erklärt: Bei vielen Menschen ist ein berufliches Ziel, viel Geld zu verdienen. Aber wenn man jetzt einmal genau nachdenkt und selbstkritisch hinterfragt, was dahinter steht, so kann man zu der folgenden Erkenntnis kommen. Ich brauche das viele Geld, um mit meiner Familie in einen grandiosen Urlaub zu fahren, weil ich sie unter der Woche nie sehe. Und der Grund dafür ist, dass ich immer lange arbeiten muss, um viel Geld zu verdienen. Ist dein Wunsch dann nicht eher, qualitativ hochwertige Zeit mit deiner Familie zu haben, anstatt reich zu sein? Und ist das, was du tun willst, dann nicht eher auf eine ausgewogene Work-Life-Balance zu achten anstatt „für den Urlaub zu arbeiten“?
Laut der vedischen Philosophie, die u.a. in den Upanishaden und der Bhagavad Gita erläutert wird, hat jeder die Gelegenheit, durch das Erfüllen seiner vorgesehenen Pflichten (Dharma) sein Karma zu bereinigen. Die Qualität deines Karmas bestimmt, wie du dann wiedergeboren wirst. Das ultimative Ziel dieses zyklischen Prozesses ist es, eine Einheit des individuellen Selbst mit dem universellen Selbst (Brahman) zu erreichen und so den ewigen Kreislauf der Wiedergeburt zu durchbrechen.
Schrittweise positive Transformation
Graógraman, der Löwe, ergänzt später seine Erklärungen und sagt:
„Die Wege Phantàsiens kannst du nur durch deine Wünsche finden. Und du kannst immer nur von einem Wunsch zum nächsten gehen. Was du dir nicht wünscht, ist für dich unerreichbar.“
Du wünschst dir zu mehr Gesundheit, Glück und Ruhe zu finden, also die Balance von Körper, Geist und Seele wiederherzustellen? Dann lasse dich von positiven Affirmationen leiten und versuche nicht vom Alten wegzukommen, sondern vielmehr zu einem neuen Punkt zu gelangen. Wenn du zum Beispiel zukünftig vegan leben willst, dann geht es nicht darum, den Fleischkonsum hinter dir zu lassen. Vielmehr ist es dein Ziel, zu einem gewaltlosen (Ahimsa) Lebensstil zu finden.
Auch der achtgliedrige Pfad (Asthanga Marga) ist ein gutes Beispiel. Wir starten mit der ersten Stufe, lernen die Yamas (ethische Prinzipien). Danach fahren wir fort mit den Niyamas (persönliche Disziplinen), Asana, Pranayama, Pratyahara (Zurückziehen der Sinne), Dharana (Konzentration) und Dhyana (Meditation). Und erst ganz am Ende steht Samadhi (Selbstverwirklichung). Wir steigen von einer Stufe zur nächsten, erfüllen uns einen Wunsch nach dem anderen und finden am Ende zum Zustand der vollkommenen Einheitserfahrung. Jeder erfüllte Wunsch, jede erklommene Stufe, ist dabei die Vorbereitung für das nächste Glied und damit ein wichtiger Bestandteil des Yoga-Pfades. Nur so können wir uns nicht verlaufen.
Und genauso wie Bastian in Phantàsien können auch wir uns Hilfe holen auf unseren Reisen von einem Wunsch zum nächsten. Wir können zum Beispiel Yoga in Gemeinschaft praktizieren, um Asanas und Pranayama zu erlernen. Wir können uns mit anderen Menschen verbinden und uns mit ihnen dazu austauschen, wie sie die Yamas und Niyamas leben – zum Beispiel bei der Yoga-Ausbildung. Und wir können mithilfe von Glückscoaching zu einer Strategie finden, wie wir mit mehr Freude zu unseren Wünschen gelangen.
Und welcher Wunsch steht am Ende?
„Die unendliche Geschichte“ findet zu einem positiven Ausgang und Bastians Reise in Phantàsien zu einem Abschluss, indem er lernt zu lieben. Er findet zu seiner persönlichen Balance von Körper und Geist und kann sich selbst mit allen Fehlern und Fähigkeiten akzeptieren und lieben. Er baut eine neue Wertewelt auf, die auf Harmonie und Akzeptanz beruht. Und er erwirbt die Fähigkeit, Ruhe und Frieden mit allen anderen zu teilen.
Ich glaube, das ist der wahre Wunsch, der hinter allen anderen Wünschen steht und den wir niemals aus den Augen verlieren dürfen, damit wir uns nicht verirren: Lokah Samastah Sukhino Bhavantu. Mögen alle Wesen auf dieser Welt Harmonie und Glück erfahren.